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Angelika Mittelmann

Digitalisierung, Wissensmanagement und die Zukunft der Lernenden Gesellschaft

Angelika Mittelmann teilt in diesem Webinar ihre langjährigen Erfahrungen mit Wissensmanagement und skizziert sowohl ein Idealszenario als auch ein Horrorszenario für die Zukunft der Wissensgesellschaft. Basierend auf über 20 Jahren praktischer Arbeit bei Voestalpine und in der österreichischen Wissensmanagement-Community zeigt sie Erfolgsstrategien für eine demokratische, lernende Gesellschaft auf.


Hauptthemen des Beitrags:

  1. Aktuelle Entwicklungen in Digitalisierung und Industrie 4.0
  2. Persönliche Herkunft und Erfahrungen im Wissensmanagement
  3. Idealszenario einer wissensbewussten Gesellschaft
  4. Horrorszenario gesellschaftlicher Spaltung
  5. Erfolgsstrategien für eine lernende Zukunft

Aktuelle Entwicklungen in Digitalisierung und Industrie 4.0

Die Digitalisierung hat sich nach Mittelmanns Beobachtung "sehr, sehr schleichend" entwickelt. In vielen Organisationen waren es zunächst "technikaffine Einzelpersonen", die das Potenzial und die Risiken der neuen Technologien erkannten. Je nach Machtverhältnissen und technikfreundlicher Unternehmenskultur begannen einige Organisationen, Maschinensysteme einzusetzen, um ihre Prozesse zu vereinfachen und zu beschleunigen.

Ein zentraler Aspekt dieser Entwicklung ist die Demokratisierung der Organisationen. Mittelmann betont: "Ein Kernpunkt der lernenden Organisation ist es nämlich, den Menschen in seiner Gesamtheit in den Mittelpunkt zu stellen und Organisationen sozusagen drum herum zu bauen, basierend auf den Prinzipien der Selbstorganisation und Partizipation." Diese Gedanken wurden durch Frederic Laloux in seinem Werk "Reinventing Organizations" zu einem praktikablen Konzept zusammengefasst.

Die Wissensgesellschaft als übergeordnetes Phänomen prägt zunehmend die industrialisierte Gesellschaft. Durch die Abwanderung komplexer Produktionsprozesse in Länder außerhalb der Eurozone müssen europäische Unternehmen ihre Wertschöpfung "zunehmend in Ideen und Kreativität suchen". Damit wird Wissen und Innovation auch in der Industrie zum entscheidenden Wachstumstreiber.

Persönliche Herkunft und Erfahrungen im Wissensmanagement

Mittelmanns Weg begann 1995/1996 mit der Teilnahme am Kompetenzzentrum für Wissens- und Prozessmanagement an der Universität Linz. Dieses interdisziplinäre Zentrum brachte Praktiker aus Industrie und NGOs, Wissenschaftler und Studierende zusammen. Als Informatikerin wechselte sie bewusst von der Technik weg und übernahm die Leitung der Arbeitsgruppe "Organizational Learning".

Die intensive zweijährige Arbeit mündete in das Buch "Geschäftsprozesse mit menschlichem Antlitz: Methoden des organisationalen Lernens anwenden". Im fünften Jahr entwickelte ihre Arbeitsgruppe das strategiegeleitete Vorgehensmodell K2BE (Knowledge Management to Business Excellence), das sie später bei Voestalpine zur Einführung von Wissensmanagement einsetzte.

Von 2000 bis 2002 führte Mittelmann Wissensmanagement bei Voestalpine ein, mit verschiedenen Handlungsfeldern:

  • Einführung des Projektmanagement-Leitfadens mit Technikunterstützung
  • Lessons Learned mit dem ersten europäischen Einsatz von Storytelling
  • Prozessbeschreibung und High-Level-Prozessbeschreibungstools
  • Know-how-Sicherung durch die Wissensstaffette
  • Wissensnetzwerke (heute würde man sie Communities nennen)
  • IT-Architektur für Wissensmanagement

Die Wissensstaffette (auch Expert-Debriefing genannt) wurde 2004 von VW übernommen und bei Voestalpine weiterentwickelt. Seit 2004 ist dieser Wissenstransferprozess "gelebte Praxis" im Unternehmen. Mittelmann stellt fest: "Über Wissensmanagement in der Voestalpine wird im Prinzip nicht mehr geredet, sondern es wird getan."

Idealszenario einer wissensbewussten Gesellschaft

Mittelmann skizziert fünf zentrale Elemente ihres Idealszenarios:

  1. Freie Bildungsressourcen: Jede Bürgerin und jeder Bürger hat "uneingeschränkten Zugriff auf freie Bildungsressourcen". Eine entsprechende Infrastruktur stellt sicher, dass jeder, der will, auch kann. Die Ressourcen werden ständig ergänzt, erweitert und überarbeitet.
  2. Freier Zugang zu Wissen: Das Internet dient als "Wissensmaschine" mit kostenfreiem Zugang für alle. Ausreichende Bildung ermöglicht es jedem, Suchabfragen erfolgreich zu gestalten. Freie soziale Plattformen, sowohl virtuell als auch face-to-face, ermöglichen Diskussion und Austausch unter Gleichgesinnten.
  3. Mensch-Maschine-Kooperation: Menschen arbeiten "ganz selbstverständlich mit Cybersystemen, also zum Beispiel Robotern zusammen" und nutzen das Internet of Things zur Prozessbeschleunigung. Die beteiligten Menschen kennen die Grenzen dieser Systeme und setzen sie bedarfsgerecht ein. Völlig neue Berufsfelder eröffnen vielen Menschen vielfältige Perspektiven.
  4. Menschengerechte Organisation: Unternehmen arbeiten "weitgehend auf soziokratischer Basis" und verwenden "durchgängig eine soziale Technologie auf Basis von Gleichwertigkeit, Transparenz und Feedback". Leben und Arbeiten sind nicht mehr getrennte Bereiche, sondern haben sich ganzheitlich zusammengefügt.
  5. Wissensbewusste und innovationsfreudige Gesellschaft: Staaten, Regierungen, Unternehmen und Netzwerke haben einen Entwicklungsstand erreicht, "in dem das Wissen aller wertgeschätzt wird, für alle Aufgabenstellungen in der Gemeinschaft zum Einsatz kommen und Innovationen natürliches Element der gemeinsamen Weiterentwicklung sind."

Horrorszenario gesellschaftlicher Spaltung

Als Gegenpol zum Idealszenario zeichnet Mittelmann ein düsteres Bild möglicher Entwicklungen:

  1. Bildung nur für finanzkräftige Eliten: Umfassende Bildung nur für Wohlhabende würde "den Ausschluss der überwiegenden Mehrheit der Bevölkerung bedeuten". Dies ist bereits teilweise Realität, wenn man den unterfinanzierten öffentlichen Bildungssektor mit der wachsenden Zahl privat finanzierter Schulen und Hochschulen vergleicht.
  2. Digitale Spaltung: Ein erheblicher Bevölkerungsanteil hat weder die finanziellen noch die technischen Ressourcen für Internetzugang. Hinzu kommt der Personenkreis, der "aufgrund fehlender digitaler Bildung nicht einmal dazu in der Lage ist", daran teilzunehmen.
  3. Arbeitslosigkeit durch Digitalisierung: Laut Untersuchungen der Gartner Group werden "circa die Hälfte der derzeitigen Berufe verschwinden", weil Cybersysteme ihre Aufgaben besser und effizienter ausführen können. Ohne Umschulung droht Arbeitslosigkeit in unvorstellbaren Dimensionen.
  4. Organisationen als Wissensbunker: Trotz digitaler Vernetzung kann Wissen bewusst zurückgehalten werden. Bereits heute werden nicht nur Produkte, sondern auch biochemische Systeme wie veränderte Samen durch Patente geschützt. Diese Entwicklung könnte sich auf andere Bereiche ausweiten.
  5. Innovationsfeindliche Umwelt: Wenn Wissen in Bunkern zurückgehalten wird, wird es "immer schwieriger, wenn nicht sogar unmöglich, Innovationen voranzutreiben" - außer in den geschützten Bereichen der Wissensbesitzer.

Erfolgsstrategien für eine lernende Zukunft

Mittelmann identifiziert drei zentrale Erfolgsstrategien:

  1. Lernen als Grundeinstellung im Bildungssystem verankern: "Kinder sind die neugierigsten und lernhungrigsten Menschen der Welt. Es muss uns gelingen, diese Neugier und diesen Hunger nach Wissen bis ins hohe Alter am Leben zu erhalten." Dies erfordert eine massive Bildungsreform mit reformpädagogischen Ansätzen und Digitalisierung im öffentlichen Bildungssystem. Mittelmann präzisiert: "Ich stelle immer wieder fest, wenn Menschen so eine normale Bildung durchlaufen, dann verlieren sie irgendwann einmal so die Lust am Lernen. Und das darf nicht passieren." Es geht nicht um das Lernen an sich, sondern um das "Lernen wollen" und die fundamentale Neugier, etwas Neues erfahren zu wollen.
  2. Innovationsfreundliche Unternehmenskultur fördern: Dies erfordert "Partizipation und Selbstorganisation als Grundprinzipien in die Organisationen zu bringen", um "die innovative Kraft, die der gesamten Mitarbeiter zweifelsohne vorhanden ist, freizubekommen". Eine soziokratische oder ähnliche Organisationsform soll gefördert werden.
  3. Klima des sozialen Miteinanders schaffen: Durch entsprechende Initiativen sollen "Bürgerinnen und Bürger regional näher zusammengebracht werden", um Vertrauen zu stärken und Nachbarschaftshilfe zu gelebter Praxis zu machen.

Fazit

Mittelmanns Vortrag zeigt eindrücklich die Spannweite zwischen utopischen und dystopischen Zukunftsszenarien für die Wissensgesellschaft auf. Ihre über 20-jährige Praxiserfahrung bei Voestalpine belegt, dass Wissensmanagement erfolgreich implementiert werden kann, wenn es konsequent auf den Menschen ausgerichtet wird.

Zentrale Erkenntnisse:

  • Wissensmanagement funktioniert nur mit dem Menschen im Mittelpunkt
  • Organisationale und gesellschaftliche Entwicklung müssen Hand in Hand gehen
  • Die Gefahr einer Zwei-Klassen-Gesellschaft beim Zugang zu Bildung und Wissen ist real
  • Erfolgreiche Transformation erfordert fundamentale Reformen im Bildungssystem

Offene Fragen:

  • Wie kann die Lust am Lernen in bestehenden Bildungssystemen erhalten werden?
  • Welche konkreten Schritte sind nötig, um soziokratische Prinzipien in Organisationen zu etablieren?
  • Wie lässt sich die digitale Spaltung der Gesellschaft verhindern?

Handlungsempfehlungen:

  • Bildungsreform mit Fokus auf lebenslanges Lernen vorantreiben
  • Partizipation und Selbstorganisation in Organisationen implementieren
  • Regionale Initiativen für soziales Miteinander stärken
  • Wissensmanagement als ganzheitlichen Ansatz verstehen, der Mensch, Organisation und Technik integriert
  • Den Austausch zwischen Generationen im Lernprozess fördern