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Nick Milton

20 Jahre Wissensmanagement: Rückblick und Ausblick mit Nick Milton

Nick Milton, einer der führenden Experten im Wissensmanagement, reflektiert in diesem Webinar über 20 Jahre Entwicklung im Bereich Knowledge Management. Er analysiert den aktuellen Zustand der Disziplin, identifiziert anhaltende Verwirrungen und Fallstricke und entwirft zwei Zukunftsvisionen - eine himmlische und eine höllische. Als Hoffnungsträger für eine bessere Zukunft sieht er die Entwicklung eines ISO-Standards für Wissensmanagement, der endlich Klarheit und einheitliche Prinzipien schaffen könnte.


Hauptthemen des Beitrags:

  1. Aktueller Zustand des Wissensmanagements: Verwirrung und Kernbereiche
  2. Rückblick: Die "11 tödlichen Sünden" von vor 20 Jahren und ihre anhaltende Relevanz
  3. Persönliche Entwicklung: Von Tools über Toolkits zum Framework-Ansatz
  4. Zukunftsvisionen: Himmel und Hölle für das Wissensmanagement
  5. Der ISO-Standard als Weg zum "Himmel"

Aktueller Zustand des Wissensmanagements: Verwirrung und Kernbereiche

Milton zeichnet ein Bild des aktuellen Wissensmanagements, das von grundlegenden Verwirrungen geprägt ist. Seine Analyse von über 200 Definitionen des Wissensmanagements zeigt vier verschiedene Lager:

  • Wissensorientierte Definitionen (ca. 50%): Sprechen ausschließlich von Wissen
  • Asset-orientierte Definitionen: Fokussieren auf intellektuelle Vermögenswerte
  • Gemischte Definitionen: Vermischen Wissen und Information
  • Informationsorientierte Definitionen: Sprechen nur von Information und Daten

"Für mich ist das eine Definition von Informationsmanagement. Wenn das nicht Informationsmanagement ist, dann weiß ich nicht, was es ist", kritisiert Milton die rein informationsorientierten Definitionen.

Ein zweites Verwirrungsfeld identifiziert er bei der Rolle der Technologie. Die Analyse der "100 Companies that matter in KM" von KM World zeigt eine deutliche Technologie-Dominanz. In der Wortwolke dieser Unternehmen sind die größten Begriffe "Solution, manage, software, content, search, cloud, data, social" - während "knowledge" nur klein am Rand zu finden ist.

Trotz dieser Verwirrungen kristallisiert sich ein Kern des Wissensmanagements heraus. Eine Umfrage unter fast 400 Wissensmanagern weltweit identifizierte die populärsten Elemente:

  • Vernetzung von Menschen durch Netzwerke (Communities of Practice)
  • Lernen aus Erfahrungen (Lessons Learned)
  • Zugang zu Dokumenten
  • Wissensbewahrung (Knowledge Retention)
  • Best Practices

Rückblick: Die "11 tödlichen Sünden" von vor 20 Jahren und ihre anhaltende Relevanz

Milton verweist auf Larry Prusaks "11 deadliest sins of knowledge management" von vor 20 Jahren und stellt fest, dass mindestens die Hälfte dieser "Sünden" heute noch relevant sind:

  • Unwilligkeit, zwischen Information und Wissen zu unterscheiden
  • Betonung von Wissenssammlungen statt Wissensaustausch
  • Sehen von Wissen als außerhalb der Köpfe der Menschen existierend
  • Zu wenig Beachtung der Rolle von tacitem Wissen
  • Trennung von Wissen von seinem geschäftlichen Nutzen
  • Substitution von Technologie für menschliche Interaktion

"Haben wir in 20 Jahren nichts gelernt?", fragt Milton provokant. Die Technologien haben sich geändert - von Groupware und Lotus Notes zu SharePoint, Yammer, Jive und Slack - aber die Botschaft bleibt dieselbe: "Technologie wird KM retten."

Persönliche Entwicklung: Von Tools über Toolkits zum Framework-Ansatz

Milton beschreibt seine eigene Entwicklung im Verständnis von Wissensmanagement über 20 Jahre:

  1. 1992 - Tool-Ansatz: "Ich sah es als ein Werkzeug. Das Werkzeug war Lesson Learning."
  2. 1997 - Toolkit-Ansatz: "Ein Werkzeug ist nicht genug. Wir begannen das Konzept eines Toolkits zu entwickeln."
  3. 2007 - Framework-Ansatz: "Es ist kein Toolkit. Es ist ein Framework - ein Managementsystem, in dem Werkzeuge angewendet werden."

Ein Framework kombiniert vier Elemente:

  • Technologien
  • Prozesse
  • Rollen und Verantwortlichkeiten
  • Governance

Google-Suchen zeigen die unterschiedliche Aufmerksamkeit für diese Bereiche: "Knowledge management process" liefert über 300.000 Treffer, "knowledge management technology" 250.000, aber "knowledge management governance" nur 30.000 - weniger als 10% der Prozess-Treffer.

Zukunftsvisionen: Himmel und Hölle für das Wissensmanagement

Zukunft Hölle wäre für Milton, wenn in 20 Jahren:

  • Immer noch dieselben Diskussionen geführt werden
  • Der Unterschied zwischen Wissens- und Informationsmanagement unklar bleibt
  • Technologien weiterhin als Allheilmittel angepriesen werden
  • Dieselben Fallstricke wiederkehren
  • 70% der KM-Initiativen weiterhin scheitern

Zukunft Himmel würde bedeuten:

  • Wir wissen, was KM ist - als eigenständige Disziplin, fokussiert auf Wissen
  • Wir verstehen es als Management-Framework, nicht als Technologie
  • Klare Abgrenzung zu verwandten Disziplinen trotz Überschneidungen
  • 70% Erfolgsrate statt 70% Misserfolgsrate

Der ISO-Standard als Weg zum "Himmel"

Als konkreten Weg zur besseren Zukunft sieht Milton die Entwicklung eines ISO-Standards für Wissensmanagement. Dieser Standard:

  • Ist seit einem Jahr in Entwicklung mit 30 beteiligten Ländern
  • Wird prinzipienbasiert sein, nicht praxisvorschreibend
  • Soll Verwirrung beseitigen und zentrale Definitionen liefern
  • Warnt vor Fallstricken und "tödlichen Sünden"
  • Ermöglicht jeder Organisation den Aufbau eines sicheren KM-Ansatzes

Der Standard wird drei Hauptnutzen haben:

  1. Bildungsaspekt: Einführung und Beispiele aus verschiedenen Branchen
  2. Interne Standards: Organisationen können Compliance-Ziele definieren
  3. Vertragliche Nutzung: Bei Outsourcing kann KM-Standard gefordert werden

"Was ich hoffe, ist, dass wir dann eine 70%ige Erfolgsrate haben werden, nicht eine 70%ige Misserfolgsrate", fasst Milton seine Vision zusammen.

Fazit

Milton zeichnet ein differenziertes Bild des Wissensmanagements nach 20 Jahren Entwicklung. Trotz anhaltender Verwirrungen und wiederkehrender Fehler kristallisiert sich ein Kern der Disziplin heraus. Der entscheidende Paradigmenwechsel liegt im Verständnis von Wissensmanagement als ganzheitlichem Management-Framework statt als Sammlung von Tools oder Technologien.

Offene Fragen und Herausforderungen:

  • Wie kann die Technologie-Fixierung überwunden werden?
  • Welche Rolle spielt Wissensmanagement in einer VUCA-Welt (Volatilität, Unsicherheit, Komplexität, Ambiguität)?
  • Wie kann Wissensmanagement als Karriereweg etabliert werden?

Handlungsempfehlungen:

  • Fokus auf den Kern des Wissensmanagements: Menschen vernetzen, aus Erfahrungen lernen, Wissen bewahren
  • Entwicklung ganzheitlicher Frameworks statt isolierter Tool-Implementierungen
  • Unterstützung des ISO-Standardisierungsprozesses als Chance für die Disziplin
  • Klare Abgrenzung zwischen Wissens- und Informationsmanagement in der Praxis