Zum Inhalt

Simon Dückert

Lernende Organisationen - State of the Union - 20 Jahre Wissensmanagement

Simon Dückert reflektiert in seinem Vortrag die Entwicklung des Wissensmanagements der letzten 20 Jahre und zeigt auf, dass das Thema nicht am Ende, sondern erst am Anfang einer exponentiellen Entwicklung steht. Er argumentiert für einen Wandel von einzelnen Tools hin zu organisationsweiten Frameworks und betont die Bedeutung der digital vernetzten Wissensgesellschaft für die Zukunft.


Hauptthemen des Beitrags:

  1. Die aktuelle Situation des Wissensmanagements nach 20 Jahren
  2. Megatrends Digitalisierung und Vernetzung als Treiber
  3. Evolution von Tools zu Frameworks in der Praxis
  4. Zukunftsperspektiven und notwendige Entwicklungsschritte

Die aktuelle Situation des Wissensmanagements nach 20 Jahren

Dückert stellt zu Beginn die provozierende Frage, ob Wissensmanagement nach 20 Jahren als "Rest in Peace" betrachtet werden sollte. Seine klare Antwort: Nein. Vielmehr befinde sich das Thema erst am Anfang einer exponentiellen Entwicklung. Er vergleicht die aktuelle Situation mit einem Sonnenaufgang aus dem Weltall, bei dem ein Großteil der Menschheit "noch völlig im Dunkeln ist".

Diese Einschätzung wird besonders deutlich, wenn man aktuelle Diskussionen im Qualitätsmanagement-Bereich betrachtet, wo grundlegende Fragen wie "Ist Wissen und Information eigentlich das Gleiche?" erneut aufkommen. Diese Rückschritte zeigen, dass die Aufklärungsarbeit der letzten 20 Jahre noch lange nicht abgeschlossen ist.

Die Metapher der "Zwerge auf den Schultern von Riesen" verdeutlicht Dückerts Ansatz: Die Erfahrungen und Erkenntnisse der vergangenen zwei Jahrzehnte sollten als Fundament für weitere Entwicklungen genutzt werden, anstatt sie zu ignorieren. Der kleine Zwerg sieht mehr als der Riese, weil er weiter oben steht - so können auch aktuelle Wissensmanagement-Praktiker von den bisherigen Erfahrungen profitieren und darüber hinausblicken.

Megatrends Digitalisierung und Vernetzung als Treiber

Zwei zentrale Megatrends prägen nach Dückerts Analyse die Zukunft des Wissensmanagements:

Digitalisierung und exponentielles Wachstum: Das Moore'sche Gesetz aus den 1950er/60er Jahren beschreibt die Verdoppelung von Rechengeschwindigkeit und Speicherdichte alle 18 Monate. Diese exponentielle Entwicklung führt dazu, dass technische Fortschritte in den nächsten zehn Jahren kaum vorhersagbar sind. Dückert verweist auf die Geschichte des Schachbretts und der Reiskörner, um zu verdeutlichen, wie schwer es Menschen fällt, exponentielle Entwicklungen zu erfassen.

Globalisierung und Urbanisierung: Der zweite Megatrend betrifft die zunehmende Vernetzung von Menschen und die Entstehung wissensintensiver Cluster. Dückert erklärt das Konzept der "Knowledge Spillover-Effekte", die entstehen, wenn sich viel Wissen regional konzentriert. Das Silicon Valley dient als Paradebeispiel für diese Dynamik, wo die Kombination aus Ideen, Ausbildung und Kapital zu einer außergewöhnlichen Innovationsdynamik führt.

Digital vernetzte Wissensgesellschaft: Die Kombination beider Trends führt zu dem, was Dückert "digital vernetzte Wissensgesellschaft" nennt. Dabei kritisiert er, dass reine Digitalisierungsinitiativen zu kurz greifen. Die Wissens- und Lernperspektive müsse immer mitgedacht werden, wobei digitale Technologien als Container und Transportmechanismus dienen.

Professor Heidenreich definiert vier Merkmale der Wissensgesellschaft:

  • Einsatz neuer Informations- und Kommunikationstechnologien
  • Bedeutung von Innovationen statt Wiederholung
  • Veränderter Stellenwert von Bildung
  • Zunehmende Bedeutung wissensbasierter Wirtschaftsbereiche und Tätigkeiten

Besonders hervorzuheben ist Dückerts Warnung vor einem "Knowledge Divide": Während früher der Digital Divide zwischen vernetzten und nicht-vernetzten Menschen diskutiert wurde, entstehe nun eine Teilung zwischen jenen, die digitale Tools zur Wissenserweiterung nutzen, und jenen, die dies nicht tun.

Evolution von Tools zu Frameworks in der Praxis

Anhand von drei konkreten Praxisbeispielen illustriert Dückert die Evolution des Wissensmanagements:

Phase 1 - Bosch Praxisleitfaden (2004/2005): In der ersten Phase wurde Wissensmanagement primär als Sammlung einzelner Tools verstanden. Der Bosch Praxisleitfaden dokumentierte verschiedene Instrumente wie Wissensstrategie-Prozesse, Wissenslandkarten, Communities of Practice und strukturierte Ablagesystematiken. Die Wirkung blieb meist auf einzelne Organisationseinheiten beschränkt.

Phase 2 - Schaeffler (2003-2010): Bei Schaeffler entwickelte sich ein Portfolio verschiedener Methoden: Community-of-Practice-Ansätze, Expert-Debriefing, Wiki-Systeme und das Schaeffler-Wissensforum. Interessant ist, dass diese Tools auch nach Auflösung der zentralen Wissensmanagement-Abteilung in verschiedenen Bereichen weiterlebten. Die Erkenntnis: Wissensmanagement ist nicht ein Tool, sondern viele Tools, die Partner in der Organisation erfordern.

Phase 3 - Adidas Learning Campus (2013): Das Adidas-Projekt zeigt den Übergang zu einem organisationsweiten Framework. Ausgehend von einem Employee Survey startete das Unternehmen mit der offenen Frage "Help us find a new way of learning" einen kulturellen Wandel. Die einzige Regel im Learning Campus: Alles ist offen. Diese Offenheit erstreckt sich auf Programme, Materialien, Inhalte und Veranstaltungen.

Dückert identifiziert drei Entwicklungsstufen:

  1. Wissensmanagement als Tool: Einzelne Instrumente mit begrenztem Impact
  2. Wissensmanagement als Toolkit: Portfolio verschiedener Methoden mit Partnern
  3. Wissensmanagement als Framework: Integration in alle Organisationsprozesse

Zukunftsperspektiven und notwendige Entwicklungsschritte

Für die Zukunft sieht Dückert die Notwendigkeit, Wissen und Lernen in jeden Organisationsprozess zu integrieren - von der Gebäudeplanung bis zu Arbeitsplätzen der Zukunft. Die ISO 9001 bietet seiner Meinung nach eine gute Ausgangsbasis für ein solches Framework.

Zentrale Elemente eines Wissensmanagement-Frameworks:

  • Purpose der Organisation und strategische Ziele
  • Balance zwischen Hierarchie und Netzwerk
  • Mensch im Mittelpunkt mit multiplen Rollen
  • Prozessmanagement mit kommunikativer Hülle
  • Lernförderliche Arbeitsumgebung (kulturell, digital, physisch)

Konkrete Anforderungen: Über abstrakte Modelle hinaus braucht es klare Definitionen von Prozessen, Technologien, Governance-Strukturen und Rollen. Dückert kritisiert oberflächliche Diskussionen wie "Löst der Data Scientist den Wissensmanager ab?" und fordert stattdessen eine differenzierte Betrachtung der vielfältigen Rollen im Wissensmanagement: Wikigärtner, Lessons-Learned-Moderatoren, Community-Manager, Expert-Debriefing-Moderatoren, Knowledge Broker und viele mehr.

Mittel-Up-Down-Ansatz: Basierend auf Nonakas Konzept empfiehlt Dückert den Mittel-Up-Down-Ansatz als erfolgversprechendsten Weg. Statt reinem Top-Down oder Bottom-Up sollte im mittleren Management begonnen werden - bei Personen, die sowohl die Sorgen des Top-Managements als auch die Probleme an der Front verstehen.

Fazit

Dückert schließt mit einem klaren Appell: Wissensmanagement ist kein auslaufendes Thema, sondern überlebenswichtig für Unternehmen und Gesellschaft. Andere Länder werden Deutschland abhängen, wenn nicht konsequent an der Entwicklung lernender Organisationen gearbeitet wird.

Zentrale Handlungsempfehlungen:

  • Sich nicht von "Rest in Peace Wissensmanagement"-Aussagen beirren lassen
  • Gemeinsam voneinander lernen und große Visionen entwickeln
  • Von Need-to-Know zu "Open by Default" wechseln
  • Frameworks statt einzelne Tools entwickeln
  • Den Mittel-Up-Down-Ansatz im mittleren Management beginnen
  • Die Wissens- und Lernperspektive in alle Digitalisierungsinitiativen integrieren

Die Botschaft ist klar: Wissensmanagement steht nicht vor dem Sonnenuntergang, sondern vor dem Sonnenaufgang. Die nächsten Jahrzehnte werden entscheidend sein, um aus den ersten "Baby-Steps" eine umfassende Transformation zu lernenden Organisationen zu vollziehen.