Stefan Kühl
Jenseits der Verklärung der lernenden Organisation
Stefan Kühl von der Universität Bielefeld präsentiert eine kritische systemtheoretische Analyse der Konzepte von Wissensmanagement und lernenden Organisationen. Er zeigt auf, wie Organisationen strukturbedingt blinde Flecken produzieren und wie Tabuisierung wichtige Informationen verhindert. Seine zentrale These: IT-gestützte Wissensmanagementsysteme können aufgrund ihrer Transparenz- und Offenheitsprinzipien gerade die kritischsten organisationalen Themen nicht erfassen.
- Referent:innen: Stefan Kühl
- Material: Folien
- Aufzeichnung: Video
- Transkript: txt
Hauptthemen des Beitrags:
- Kritik der Verklärung von Wissen und Lernen als Allheilmittel
- Strukturbedingte Produktion von blinden Flecken in Organisationen
- Die Rolle von Tabus im organisationalen Wissensmanagement
- Grenzen IT-gestützter Wissensmanagementsysteme
Kritik der Verklärung von Wissen und Lernen als Allheilmittel
Kühl kritisiert den vorherrschenden "Wissensfundamentalismus" in Organisationen, der davon ausgeht, dass mehr Wissen und schnelleres Lernen automatisch zu besseren Organisationsleistungen führen. Diese Annahme sei Teil einer Dramatisierung des Wandels, die seit 30-40 Jahren unter verschiedenen Begriffen propagiert wird.
Als Gegenposition führt er mehrere wissenschaftliche Konzepte an, die den Wert von Nichtwissen und Nichtlernen betonen:
- James Marchs "Technology of Foolishness" - Dummheit befördert Innovation
- Alfred Hirschmanns Studie über Entwicklungshilfeprojekte: "Ignoranz der Ignoranz als Erfolgsbedingung"
- Fritz Simons "Kunst nicht zu lernen" in zwischenmenschlichen Beziehungen
- Nils Brunzens Unterscheidung zwischen Entscheidungs- und Handlungsrationalität
- Das Konzept der "funktionalen Dummheit" (Functional Stupidity)
Die lokale Rationalität von Wissensmanagern führe dazu, dass sie Wissen und Lernen als zentrale Erfolgsfaktoren absolut setzen - ähnlich wie Marketing die Produktvermarktung oder Qualitätsmanagement die Qualität als entscheidend betrachtet.
Strukturbedingte Produktion von blinden Flecken in Organisationen
Organisationen produzieren durch ihre Strukturbildung automatisch blinde Flecken - dies ist unvermeidlich und funktional notwendig. Kühl unterscheidet zwei Typen von Entscheidungen:
- Entscheidungen über Strukturen: Hier setzen klassische Reflexe des Wissensmanagements ein - Strategieprojekte und Change-Management fördern Organisationslernen und Wissensverarbeitung.
- Entscheidungen im Rahmen bestehender Strukturen: Diese werden weniger betrachtet, obwohl sie den Organisationsalltag prägen. Hierarchische Entscheidungen und etablierte Programme dürfen in der Regel nicht grundsätzlich in Frage gestellt werden, da sonst die Funktionsfähigkeit der Organisation gefährdet wäre.
Dieser Strukturschutz führt zu selbstverstärkenden Effekten: Starre Strukturen filtern Umweltinformationen, was die Organisation in ihren aktuellen Strukturen bestätigt und zur weiteren Verfestigung führt. Historische Beispiele wie Faceit AB (mechanische Rechenmaschinen) oder IBM (Großrechner statt PCs) zeigen, wie strukturbedingte blinde Flecken zu strategischen Fehlentscheidungen führen können.
Kühl stellt die Hypothese auf, dass die "lemmigartige" Reaktion des Managements auf Buzzwords wie "Big Data" oder "Industrie 4.0" eine Panikreaktion auf die Erkenntnis strukturbedingter blinder Flecken darstellen könnte.
Die Rolle von Tabus im organisationalen Wissensmanagement
Trotz strukturbedingter blinder Flecken existieren in Organisationen alternative Wissensbestände und konkurrierende Perspektiven. Die entscheidende Frage ist, ob diese an die Oberfläche gelangen oder unterdrückt werden.
Kühl definiert Tabus systemtheoretisch als "das Fehlen bestimmter Themen zur Ermöglichung und Steuerung von Kommunikation". Es gibt akzeptierte und nicht akzeptierte Antworten auf bestimmte Fragen - letztere führen sofort zu Unwohlsein und Strukturschutz.
Anhand von Beispielen aus der Entwicklungszusammenarbeit und einem französischen Großkonzern zeigt er, wie Tabuisierung funktioniert: Brisante Informationen werden in Einzelgesprächen preisgegeben, aber in Gruppensituationen bestritten, sobald Compliance-Vertreter anwesend sind. Mitarbeiter riskieren Abmahnungen, wenn sie kritische Studien auf gemeinsame Laufwerke stellen.
Besonders problematisch: Organisationen mit starker Organisationskultur und ausgeprägtem Selbstbewusstsein tendieren zu besonders starker Tabuisierung, da ihre Ideologie bestimmte Themen über die Formalstruktur hinaus unterdrückt.
Grenzen IT-gestützter Wissensmanagementsysteme
Kühls zentrale These lautet: Die Prinzipien IT-gestützter Wissensplattformen - Offenheit und Transparenz - machen die Behandlung von Tabus extrem schwierig. Mitarbeiter wissen nicht:
- Was mit den Informationen passiert
- Ob sie als Person geschützt sind
- Ob die Informationen an die richtigen Stellen gelangen
Am Beispiel der VW/Audi-Skandale verdeutlicht er: Hunderte oder Tausende von Mitarbeitern wussten Bescheid, aber ein IT-gestütztes System hätte diese Informationen vermutlich nicht verarbeiten können.
Seine Beobachtungen aus der Beratungspraxis zeigen alternative Mechanismen:
- Workshops mit drei Hierarchiestufen aktivieren automatisch Zensurmechanismen (zwei Stufen sind noch möglich)
- Kritische Informationen werden oft in Vor- und Nachbereitungsgesprächen zu Workshops verarbeitet, nicht in den Workshops selbst
- Face-to-Face-Interaktionen ermöglichen bessere Tabu-Bearbeitung als transparente IT-Systeme
Kühl plädiert für "low-tech" Ansätze: kleine Gespräche mit wenig Dokumentation, um Informationen geschützt zu kondensieren und dann kontrolliert in die Organisation zurückzuspielen.
Fazit
Kühl fordert einen realistischeren Umgang mit den Grenzen von Wissensmanagement und Organisationslernen. Statt blindem Vertrauen in IT-gestützte Transparenz sollten Organisationen:
- Systematischer Tabus identifizieren, die erfolgskritisch sein könnten
- Den notwendigen Strukturschutz gegen die Risiken der Tabuisierung abwägen
- Alternative, weniger transparente Mechanismen für die Bearbeitung kritischer Themen entwickeln
Handlungsempfehlungen:
- Entwicklung eines Gespürs für organisationale Tabus und deren Auswirkungen
- Aufbau geschützter Kommunikationskanäle jenseits IT-gestützter Systeme
- Bewusster Umgang mit der Spannung zwischen notwendigem Strukturschutz und erforderlicher Kritikfähigkeit
- Investition in klassische Face-to-Face-Formate für die Bearbeitung sensibler Themen
Offene Fragen:
- Wie können Organisationen systematisch zwischen schützenswerten und problematischen Tabus unterscheiden?
- Welche konkreten Mechanismen ermöglichen es, kritische Themen geschützt zu bearbeiten, ohne die Organisationsstruktur zu gefährden?
- Wie lässt sich die "funktionale Dummheit" von Organisationen produktiv nutzen, ohne in gefährliche Ignoranz zu verfallen?