Peter Pawlowsky
Was wissen wir nach 20 Jahren Wissensmanagement aus Perspektive der Personalführung?
Professor Pawlowsky reflektiert in seinem Vortrag über 25 Jahre persönliche Erfahrung mit Wissensmanagement aus der Perspektive der Personalführung. Er zeichnet die Entwicklung des Wissensmanagements in sechs Phasen nach - von den frühen organisationstheoretischen Wurzeln in den 1960er Jahren bis hin zu aktuellen Trends wie Predictive Analytics und Social Innovation. Dabei zeigt er auf, wie sich das Verständnis von Wissen von einem rationalen, objektiven Konzept hin zu einem subjektiven, konstruktivistischen Prozess gewandelt hat und welche ethischen Herausforderungen sich für die Zukunft ergeben.
- Referent:innen: Peter Pawlowsky
- Material: Folien
- Aufzeichnung: Video
- Transkript: txt
Hauptthemen des Beitrags:
- Persönliche Motivation und Ausgangspunkt für die Beschäftigung mit Wissensmanagement
- Die Wurzeln des Wissensmanagements in den 1960er-80er Jahren
- Phase der Anforderungs- und Bedarfsperspektive (Ende 80er/Anfang 90er)
- Phase der Wissensverteilung und Technologieorientierung (Mitte 90er)
- Phase der strategischen Wettbewerbsfähigkeit und subjektiven Deutung
- Phase des Wissensteilens und Social Media (ab 2011)
- Aktuelle und zukünftige Entwicklungen: Predictive Analytics und Social Innovation
Persönliche Motivation und Ausgangspunkt
Pawlowsky schildert seine persönliche Motivation für die Beschäftigung mit Wissensmanagement, die in den 1980er Jahren durch ein Forschungsprojekt "Jobs in the 80s" an der Freien Universität Berlin entstand. Bei Interviews mit hunderten von Menschen - "vom Müllkutscher bis hin zum Vorstandsmitglied" - stießen die Forscher immer wieder auf "resignative Zufriedenheit".
Ein prägnantes Zitat einer Mitarbeiterin eines Pharmaunternehmens verdeutlicht das Problem: "Du bist ja nur ein Kästchen hier, eine Nummer, wenn du eine Idee hast, wenn du einen Vorschlag hast und so weiter, das interessiert hier sowieso niemand."
Diese Erfahrung führte zur Erkenntnis eines "enormen Potenzials an menschlicher Energieinitiative", das verloren geht, und zur Frage, "wie man diese Energie oder diese Potenziale stärker nutzen kann in betrieblichen Kontexten." Pawlowsky bezeichnet Begriffe wie Wissensmanagement, organisationales Lernen und High-Performance-Management als "trojanische Pferde", mit denen man "an betriebliche Realität andocken kann, die konsensual ist, wo man auch Gehör findet."
Die Wurzeln des Wissensmanagements (1960er-80er Jahre)
Entgegen der weit verbreiteten Annahme, Wissensmanagement sei Ende der 1980er Jahre in der Beratungsbranche entstanden, zeigt Pawlowsky auf, dass die Wurzeln viel tiefer liegen. Er identifiziert zwei wesentliche frühe Ansatzpunkte:
Organisationstheoretische Grundlagen: Bereits in den 1960er Jahren entwickelten Cyert und March Modelle, die das "Gedächtnis der Organisation" thematisierten. Sie definierten Decision Rules, Search Rules und Attention Rules als Grundlage organisationaler Reaktionen auf Umweltstimuli. Diese Tradition führte zu einer "Fülle von Konzepten organisationaler Wissenssysteme" - von Bouldings "Image" über "organisationales Gedächtnis" bei Simon bis hin zu "organisationalen Routinen".
Volkswirtschaftliche Perspektive: Schon 1768 beobachtete der schwedische Ökonom Westermann, dass die Leistungsfähigkeit des schwedischen Schiffbaus "weit hinter der Leistungsfähigkeit von England und Holland zurückgeblieben war" und führte dies auf "ein Defizit an industriellem Wissen" zurück. Später folgten Drucker, Fritz Machlup mit seinem 15-jährigen Forschungsprojekt zur volkswirtschaftlichen Bedeutung von Wissensinvestitionen, Daniel Bell mit der postindustriellen Wissensgesellschaft und Toffler.
Als Schlüsselerlebnis schildert Pawlowsky die Ölkrise 1973/74, die durch eine "künstliche Verknappung" der OPEC-Staaten entstanden war. Während die Insolvenzrate im Mittelstand um 32% anstieg, konnte Royal Dutch Shell durch "Scenario Planning Methods" ihre Position verbessern, weil sie bereits das Szenario eines Ölausfalls durchgespielt hatten.
Phase der Anforderungs- und Bedarfsperspektive (Ende 80er/Anfang 90er)
In dieser Phase wurde Wissensmanagement "in Anlehnung an Qualifikationsmanagement, Skillsmanagement, Weiterbildungsmanagement definiert." Die Wikipedia-Definition verdeutlicht diese Sichtweise: "Getting the right knowledge to the right people at the right time" - genau das, "was seit jeher die Aufgabe der betrieblichen Weiterbildung und der Personalentwicklung war."
Ein Prototyp dieser Phase war das "Konzept der Wissensbilanz von VW", bei dem der Input (Wissen der Beschäftigten) mit den Anforderungen des Arbeitsplatzes abgewogen wurde. "Die Waage, die Bilanz, die Wissensbilanz war jetzt das Abwägen, wie viel Defizit, also wie groß ist das Delta zwischen dem Wissen, was der Beschäftigte mitbringt und dem, was er braucht."
Zentral war die Entwicklung kybernetischer Prozessmodelle mit Phasen wie:
- Identifizierung von Wissen
- Generierung von Wissen
- Verteilung von Wissen
- Speicherung von Wissen
Neu gegenüber klassischer Personalentwicklung war, dass "nicht mehr nur der einzelne Arbeitsplatz" im Fokus stand, sondern "die Bedarfssituation der Organisation als Ganzes thematisiert wurde."
Phase der Wissensverteilung und Technologieorientierung (Mitte 90er)
Diese Phase war geprägt durch Technologie, Tools und Bewertungsfragen von Wissen. "Lässt sich Wissen berechnen? Lässt sich Wissen monetarisieren?" Es ging "fast ausschließlich um explizierbares Wissen, um explizites Wissen, das entlang der Wertschöpfungskette identifiziert und gemanagt wurde."
Geschäftsprozessorientierte Wissensmanagement-Modelle entstanden, bei denen "Wissen als Baustein betrachtet wurde, die man ähnlich einem natürlichen Rohstoff an die relevanten betrieblichen Verarbeitungsstationen transportiert." Dies war "die Geburtsstunde von den Fraunhofer IAOs, IPKs, IBM, Oracle."
Bei VW entstand unter dem Kürzel "ww.deck" (Worldwide Development and Exchange of Corporate Knowledge) eine Vielzahl kreativer Tools:
- Wissenswegweiser
- Wissensnetzwerke
- Wissensbasen
- Wissensstafetten
- Wissensbilanzen
Interessant ist Pawlowskys Beobachtung, dass "dieses Wissen auch zum Großteil wieder verloren gegangen ist" - ein wiederkehrendes Phänomen, das er als "Vergessensquote" im Wissensmanagement bezeichnet.
Parallel entstand eine "enorme Renaissance der Bewertungsthematik", anknüpfend an das Human Resource Accounting der 1970er Jahre. Das EU-Projekt RICARDIS wurde zum "wichtigen Meilenstein", aus dem sich zwei Gruppierungen entwickelten:
- Die Intellectual Capital Accounting Gruppe um Stefano Zambon
- Der New Club of Paris um Leif Edvinsson, Ahmed Bounfour und Günter Koch
Die Weltbank entwickelte eine "Knowledge Assessment Methodology" zur Bewertung des gesellschaftlichen Fortschritts hin zur Wissensgesellschaft, die jedoch "erstaunlicherweise nichts mehr verfügbar ist" - ein weiteres Beispiel für den Wissensverlust.
Phase der strategischen Wettbewerbsfähigkeit und subjektiven Deutung
Ein "fundamentaler Wechsel" fand statt: "von einer kritisch-rationalen, objektiven Verständnis von Wissen wird mehr und mehr bewusst, dass Wissen eine Aufgabe und Wissensentwicklung eine subjektive Deutung beinhaltet und ein konstruktivistischer Prozess in Organisationen darstellt."
Die Implementierung von Wissensbilanzen in KMU zeigte, dass "der Prozess der Bilanzerstellung ein hochkomplexer Prozess und ein spezifischer Strategieentwicklungsprozess eigentlich war." Geschäftsführer erkannten: "Mensch, also ein Großteil unserer Wertschöpfung, unserer Konkurrenzfähigkeit basiert eigentlich auf diesem intangiblen Kapital."
Konzepte wie Nonakas "Ba" (Wissensräume) und Senges "Helicopter View" entstanden. ISKER operationalisierte Wissensräume in:
- Social Space
- Virtual Space
- Process Space
- Physical Space
Der Executive Master of Knowledge Management an der TU Chemnitz (drei Jahre durchgeführt) umfasste Module von Wissensgesellschaft über Innovationsmanagement bis zu Intellectual Property Rights. Ein wichtiges Learning war die Entwicklung von "Problem-Handlungskombinationen" (PHKs) im Knowledge Laboratory, um spezifisches Projektwissen transferierbar zu machen.
Phase des Wissensteilens und Social Media (ab 2011)
Ein "fundamentaler Wechsel" erfolgte "vom Verteilen von Wissen, von dem gezielten Verteilen zu einem Teilen von Wissen." Diese Entwicklung wurde "gefeuert und entwickelt durch freudige und bereichernde Erfahrungen des Wissensteilens, die allgegenwärtige Verfügbarkeit von Social Media, mobiler Zugang von Internet und durch die Mobilisierungskraft des arabischen Frühlings im Frühling 2011."
Soziale Netzwerke, Wikis und Collaboration Tools ermöglichten "neue globale Möglichkeiten der Wissensteilung", befreit "von den Fesseln autoritärer Strukturen." Für viele Wissensbeauftragte in deutschen Automobilunternehmen entstand eine "hochproblematische Situation", da sie "nicht mehr so ohne weiteres kontrollieren können, welches Wissen wie geteilt wird."
Neue Zielgrößen entstanden:
- Selbstorganisation
- Nutzenstiftung
- Verlust der Bedeutung von Hierarchie und Macht
Aktuelle und zukünftige Entwicklungen: Predictive Analytics und Social Innovation
Pawlowsky identifiziert zwei wesentliche aktuelle Trends:
Trend 1: Metawissen durch Technologie "Big Data Algorithmen, Mustererkennung, Systems of Insight" ermöglichen "Wissen, das entsteht auf einer Metaebene durch Zusammenfassen von Informationselementen auf verschiedenen Ebenen." Beispiele sind "Pay How You Drive" in der Versicherungswirtschaft oder IBMs Watson mit "Cognitive Computing."
Kritisch merkt er an: "Das Prinzip Teilen bleibt zwar erhalten, jedoch unterliegt das Teilen nicht mehr einer freiwilligen Entscheidung des Einzelnen. Das heißt, es erfolgt unfreiwillig und im Verborgenen."
Trend 2: Social Innovation und Nachhaltigkeit Parallel zur "technischen Rationalität der Algorithmen" entsteht "eine Kulturanforderung des Teilens durch Vertrauen, durch Collaborative Learning und vor allem durch Ziele der Nachhaltigkeit und der sozialen Innovation."
Beispiele sind Wikipedia, People's Voice Media oder die Kiron University. Selbst das EU-Programm Horizon 2020 fordert "Nachhaltigkeit, geschlechtliche Gleichheit, soziale Innovationen" als "Responsible Research and Innovation."
Fazit
Pawlowsky resümiert, dass sich Wissensmanagement von einer "Unternehmensaufgabe zu einer Verantwortung des Einzelnen" entwickelt hat. Er sieht einen "ethisch-moralischen Auftrag" für zukünftiges Wissensmanagement und fordert "Co-Creative Leadership im Sinne von Otto Scharmer."
Offene Fragen und Herausforderungen:
- Wie kann der wiederkehrende Wissensverlust in Organisationen verhindert werden?
- Welche ethischen Grenzen braucht Predictive Analytics im Wissensmanagement?
- Wie lassen sich technologische Rationalisierung und menschliche Wissensteilung ausbalancieren?
Handlungsempfehlungen:
- Entwicklung einer "dialogischen Kultur" für Erfahrungsprozesse
- Permanentes "Neuinizieren eines Diskurses, eines Dialogs auf Augenhöhe"
- Berücksichtigung von Social Innovation und Nachhaltigkeit in Wissensmanagement-Strategien
- Reflexion über "in welchem Interesse das Wissensmanagement genutzt werden kann"
Pawlowsky schließt mit dem Appell: "Es bleibt spannend, bleiben wir dran."