Karsten Ehms
Lektionen aus 20 Jahren Wissensmanagement bei Siemens
Karsten Ehms reflektiert in seinem Vortrag über zwei Dekaden Wissensmanagement bei Siemens und zeigt auf, warum die Transformation in diesem Bereich langsamer vorangeht als erhofft. Er analysiert typische Fehler und Herausforderungen, stellt bewährte Werkzeuge vor und entwickelt eine neue Perspektive für Wissensmanagement im Zeitalter der Digitalisierung. Sein zentraler Ansatz: Wissensmanagement als Balance zwischen persönlichem Wissensaustausch und informationsgestützten Systemen zu verstehen.
- Referent:innen: Karsten Ehms
- Aufzeichnung: Video
- Transkript: txt
Hauptthemen des Beitrags:
- Historische Entwicklung des Wissensmanagements bei Siemens
- Bewährte Werkzeuge und Plattformen
- Symptome und Ursachen der Schwierigkeiten im Wissensmanagement
- Theoretische Fundierung als Schlüssel zum Erfolg
- Neue Denkansätze für Wissensmanagement
- Herausforderungen der Digitalisierung
Historische Entwicklung des Wissensmanagements bei Siemens
Die Anfänge des Wissensmanagements bei Siemens reichen bis 1999 zurück, als mit der "Yellow Pages"-Initiative begonnen wurde, Experten im Unternehmen zu identifizieren und zu finden. Diese frühe Phase war geprägt von der Frage: "Wie finde ich die richtigen Experten?" - eine Herausforderung, die bis heute relevant bleibt.
Von 2000 bis 2004 existierte ein zentrales Wissensmanagement-Office bei Siemens, das aus einer Bottom-up-Bewegung verschiedener Organisationseinheiten entstand. Diese interdisziplinäre Zusammenarbeit zwischen Technik-, Personal- und Strategieabteilung wurde als Erfolgsfaktor gesehen. Das Office hatte die Aufgabe, das Thema Wissensmanagement zu kommunizieren und voranzutreiben, was im Kontext des damaligen Dotcom-Hypes und der Diskussion um die Wissensgesellschaft möglich war.
Nach 2004 wurde das zentrale Office aufgelöst und die Verantwortung wieder an die dezentrale Wissensmanagement-Community übertragen. Diese Community existiert bis heute und vernetzt die Wissensmanagement-Experten bei Siemens, arbeitet jedoch ohne zentrale Finanzierung und Kommunikationskampagnen.
Bewährte Werkzeuge und Plattformen
Aus der Zeit des zentralen Wissensmanagement-Offices sind mehrere Werkzeuge entstanden, die bis heute im Einsatz sind:
- Reifegradmodell und Wissensstrategie-Prozess: Ein Analyseverfahren, das Organisationen dabei hilft zu bestimmen, welches Wissen überhaupt gemanagt werden soll. Dieser Prozess zeichnet sich durch seine Spezifität aus und unterscheidet sich von allgemeinen Assessments durch seinen Fokus auf die Beschreibung des zu managenden Wissens.
- Community-Support: Ein umfassendes Unterstützungsangebot für Communities, das über reine Tool-Bedienung hinausging. Es umfasste physische Kick-Off-Treffen, thematische Ausrichtung und Unterstützung sowohl der virtuellen als auch der persönlichen Zusammenarbeit.
- Offene Plattformen seit 2006: Mit der Einführung der Siemens-Blog-Plattform begann eine neue Ära offener 2.0-Plattformen, die jedem Mitarbeiter ohne aufwendige Genehmigungsprozesse zur Verfügung standen. Dies war ein entscheidender Unterschied zu früheren Jahren, in denen Lizenzfragen und Zugangsbeschränkungen dominierten.
- Urgent Request System: Ein intelligenter Verteilmechanismus für dringliche Fragen, der getaggte Inhalte auswertet und nur relevante Mitarbeiter kontaktiert. Das System nutzt wilde Tagging-Verfahren ohne strenge Taxonomien und hat sich als sehr effektiv erwiesen.
- Wiki-Plattformen: Seit 2008 existiert eine offene Wiki-Plattform, die mittlerweile exponentielles Wachstum sowohl bei Nutzern als auch bei Aktivitäten zeigt. Das Prinzip "open by default" hat sich hier besonders bewährt.
Symptome und Ursachen der Schwierigkeiten im Wissensmanagement
Ehms identifiziert sowohl unspezifische als auch spezifische Symptome, die zeigen, warum Wissensmanagement schwierig bleibt:
Unspezifische Symptome (auch auf andere Management-Disziplinen übertragbar):
- Der Dauerbrenner "Technologie ist nur Enabler" - eine Aussage, die zwar richtig, aber wenig hilfreich ist
- Die Suche nach der einen PowerPoint-Slide, die den Vorstand überzeugt
- Der Ruf nach einem neuen Namen für bekannte Konzepte
- Motivationsfragen, die als unlösbar dargestellt werden, obwohl sie psychologisch gut verstanden sind
Spezifische Symptome des Wissensmanagements:
- Der Versuch, alles Wissen managen zu wollen, ohne selektiv vorzugehen
- Die Gleichsetzung von Wissensmanagement mit dem Aufschreiben und Explizieren allen Wissens
- Die Anwendung von "gesundem Menschenverstand" ohne entsprechende Ausbildung
- Der "Mechanik-Alarm": Die Verwendung mechanischer Metaphern wie Stellhebel und Schrauben für immaterielle Prozesse
Grundlegende Ursachen:
Die Immaterialität von Wissen stellt eine Hauptherausforderung dar. Unternehmen, die aus der industriellen Tradition kommen, versuchen materielle Metaphern auf immaterielle Prozesse anzuwenden. Diese Herausforderung ist besonders relevant für die aktuelle Digitalisierungsdebatte, da Big Data und Deep Learning ebenfalls immaterielle Phänomene sind.
Die Unsteuerbarkeit und Unkontrollierbarkeit von Wissen erfordert einen Fokus auf Selbstorganisation, was Machtfragen und Demokratisierungsaspekte aufwirft - Themen, die heute in Diskussionen über Holokratie und neue Organisationsformen wieder aktuell sind.
Theoretische Fundierung als Schlüssel zum Erfolg
Ein zentraler Kritikpunkt ist das mangelnde Rückgreifen auf etablierte Basisdisziplinen. Wissensmanagement könnte von folgenden Bereichen profitieren:
- Managementlehre
- Psychologie und Soziologie
- Allgemeine Didaktik und Pädagogik
Das Problem liegt in der pluralistischen Theoriebildung: Es gibt mehrere gleichberechtigte Erklärungsmodelle für Wissensphänomene, was besonders für Ingenieure und Naturwissenschaftler herausfordernd ist, die nach der einen richtigen Lösung suchen.
Ehms warnt vor der falschen Unterscheidung zwischen "tacit" und "explicit" knowledge und der Behauptung, eine Form könne in die andere überführt werden - ein Fehler, der selbst in der Wissenschaft noch immer reproduziert wird, obwohl der Urheber Nonaka selbst seine Irrtümer korrigiert hat.
Neue Denkansätze für Wissensmanagement
Ehms schlägt eine vereinfachte Definition vor: Wissensmanagement beschäftigt sich mit der Balance zwischen persönlichem Wissensaustausch (Person zu Person) und informationsgestütztem Austausch (über Dokumente und Systeme).
Diese Definition vermeidet komplexe Abgrenzungen zwischen Wissen und Information und fokussiert auf die praktische Herausforderung: Für jede Organisation und jede spezifische Situation die richtige Balance zu finden zwischen:
- Direktem persönlichem Wissensaustausch
- Informationsgestützten Systemen
- Fallweiser Anpassung statt universeller Best Practices
Herausforderungen der Digitalisierung
Die Digitalisierung erweitert das Kontinuum um eine dritte Dimension: kognitive Systeme und Automatismen. Dies verschärft die bereits schwierige Balance, da nun drei Optionen abgewogen werden müssen:
- Persönlicher Wissensaustausch
- Dokumentenbasierte Systeme
- Automatisierte/KI-gestützte Systeme
Die zentrale Frage lautet: "Wen fragen Sie, der keine eindeutigen Eigeninteressen hat?" Tool-Anbieter werden naturgemäß ihre Lösungen favorisieren, weshalb unabhängige Expertise für die Bewertung dieser Balance entscheidend wird.
Fazit
Nach 20 Jahren Wissensmanagement bei Siemens zeigt sich, dass das Thema Wissen aktueller denn je ist, während klassisches "Management" möglicherweise überholt ist. Die Herausforderungen der Immaterialität, die schon das Wissensmanagement prägten, sind hochrelevant für aktuelle Digitalisierungsthemen.
Offene Fragen und Handlungsempfehlungen:
- Wie kann die Balance zwischen persönlichem Austausch, dokumentenbasierten Systemen und KI-Automatisierung fallspezifisch optimiert werden?
- Wie lässt sich die notwendige theoretische Fundierung in der Praxis etablieren, ohne die Komplexität pluralistischer Ansätze zu scheuen?
- Welche Rolle können Wissensspezialisten als unabhängige Berater bei Digitalisierungsentscheidungen spielen?
Zentrale Handlungsempfehlung: Investieren Sie in fundierte Ausbildung und theoretisches Verständnis der Basisdisziplinen, bevor Sie sich an Wissensmanagement-Initiativen versuchen. Vermeiden Sie mechanische Metaphern und akzeptieren Sie die Pluralität der Erklärungsansätze, ohne in Beliebigkeit zu verfallen.