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Ulrich Schmidt

My Life as a Knowledge Worker - Ein Erfahrungsbericht aus 30 Jahren Wissensmanagement

Ulrich Schmidt teilt in seinem Vortrag persönliche Erfahrungen und Erkenntnisse aus knapp 30 Jahren als Wissensarbeiter. Er zeichnet seinen beruflichen Werdegang von den frühen Jahren im Studium bis zu seiner aktuellen Position bei Continental nach und reflektiert dabei die Entwicklung des Wissensmanagements. Zentrale Themen sind die Bedeutung von Unternehmenskultur, die Notwendigkeit zielgruppenspezifischer Lösungen und die Wichtigkeit der Integration von Wissensmanagement in bestehende Organisationsstrukturen.


Hauptthemen des Beitrags:

  1. Frühe Erfahrungen als "Information Broker" im Studium
  2. Beruflicher Werdegang und Stationen im Wissensmanagement
  3. Erkenntnisse und Lessons Learned aus verschiedenen Unternehmen
  4. Zentrale Maximen für erfolgreiches Wissensmanagement
  5. Aktuelle Projekte und Verschwendungsarten bei Wissensarbeit

Frühe Erfahrungen als "Information Broker" im Studium

Schmidt beginnt seine Erzählung mit einer bemerkenswerten Episode aus seinem Maschinenbau-Studium an der FH Augsburg. Bereits damals erkannte er die Bedeutung von Wissen und Information, als er systematisch Prüfungsaufgaben und Lösungen sammelte und diese anderen Studenten zur Verfügung stellte. Diese Tätigkeit brachte ihm den Spitznamen "Mensa Uli" ein, da er die Mensa als Marktplatz für diese "Fachinformationen" nutzte.

Besonders wichtig war ihm dabei das Prinzip "kein Herrschaftswissen" - er stellte sicher, dass Informationen nicht exklusiv bei einzelnen Personen blieben, sondern nach wenigen Tagen wieder für andere verfügbar waren. Am Ende seines Studiums übergab er seine komplette Sammlung an die Fachschaft, wodurch erstmals ein umfassendes Set an Prüfungen mit Lösungen dauerhaft verfügbar wurde.

Diese frühe Erfahrung prägte bereits grundlegende Prinzipien seines späteren Verständnisses von Wissensmanagement: die systematische Sammlung, Strukturierung und Weitergabe von Wissen sowie die Vermeidung von Wissensmonopolen.

Beruflicher Werdegang und Stationen im Wissensmanagement

Diplomarbeit bei Volkswagen - Das Schlüsselerlebnis

Ein entscheidendes Erlebnis war Schmidts Diplomarbeit bei Volkswagen in den frühen 1990er Jahren. Ursprünglich als Arbeit über Technologietransfer geplant, entwickelte sie sich über zweieinhalb Jahre zu einer 240-seitigen Abhandlung über Wissenstransfer. Das Konzept eines "Transfer Service Centers" sollte erfahrene Mitarbeiter aus dem Industrial Engineering für den Wissenstransfer innerhalb der Organisation einsetzen.

Obwohl das Konzept aufgrund von Führungswechseln nie umgesetzt wurde, war diese Arbeit für Schmidt der eigentliche Einstieg ins Thema Wissensmanagement. Hier wurde ihm erstmals bewusst, dass es nicht um Technologie-, sondern um Wissenstransfer ging.

Erste Berufserfahrungen und Erkenntnisse

Nach seinem Studium arbeitete Schmidt zunächst bei einem Spin-off der Universität Witten/Herdecke (UWH Science Brokers), wo er sich mit Patentverwertung beschäftigte. Hier lernte er durch einen Praktikanten das Buch "Wissen gewinnt" von Zucker und Schmitz kennen - seine erste Begegnung mit dem Begriff "Wissensmanagement".

Bei ZF in Friedrichshafen sammelte er wichtige Erfahrungen in einem Konzernarbeitskreis Wissensmanagement. Besonders prägend war die Erkenntnis, dass auch IT-Leiter verstehen können, dass Wissensmanagement mehr als nur Technologie bedeutet. Der IT-Leiter Peter Kraus legte stets Wert darauf, dass es nicht nur um Datenbanken geht.

PwC und IBM - Erfahrungen mit Workflow-basierten Systemen

Von 2000 bis 2003 arbeitete Schmidt bei PwC (später IBM) und entwickelte einen Lotus Notes-basierten Workflow für das Sammeln und Teilen von Wissen. Diese Erfahrung lehrte ihn wichtige Lektionen:

  • Die Konstellation in Unternehmensberatungen ist anders als in Großunternehmen
  • Projektorganisationen sind strukturierter und überschaubarer
  • Ohne Commitment der Führungsebene funktioniert auch der beste Workflow nicht
  • Eine kritische Masse an Content ist notwendig für den Erfolg

Erkenntnisse und Lessons Learned aus verschiedenen Unternehmen

EnBW - Aufbau und Fall einer Wissensmanagement-Abteilung

Bei der EnBW in Karlsruhe war Schmidt von 2005 bis 2012 Gründungsmitglied der Abteilung "Organisations- und Wissensmanagement". Hier entwickelte das Team verschiedene konzeptionelle Ansätze:

  • Wissenszentrierte Geschäftsprozessanalyse
  • Intensive Nutzung der Wissensbilanz Made in Germany
  • Professionelles Maßnahmenmanagement
  • Fünfstufigen Erfolgsnachweis für Wissensmanagementaktivitäten
  • Fünf Nutzendimensionen für Wissensmanagement

Die wichtigste Erkenntnis aus dieser Zeit: "Wissensmanagement nicht abhängig machen vom Wohlwollen einzelner Personen." Schmidt erlebte, wie das Thema nach dem Weggang des unterstützenden Vorstandsvorsitzenden "wie ein Salzburger Nockerl in sich zusammensackte". Ohne institutionelle Verankerung in Prozessen und Strukturen bleibt Wissensmanagement fragil.

Continental - Fachspezifisches Wissensmanagement

In seiner aktuellen Position als Wissensmanager für 1500 Mitarbeiter in der F&E von Continental Reifen weltweit lernte Schmidt die Bedeutung vertiefter Produktkenntnis. Die Reifenentwicklung ist hochkomplex mit Innovationszyklen von sechs Jahren - doppelt so lang wie die Entwicklung der Autos, auf die die Reifen passen.

Diese Erfahrung verdeutlichte ihm, dass effektives Wissensmanagement für Spezialisten nur im "gemischten Doppel" mit Fachexperten funktioniert. Ohne tiefes Verständnis der spezifischen Prozesse und Produkte besteht die Gefahr unpassender Lösungen.

Zentrale Maximen für erfolgreiches Wissensmanagement

Aus seinen Erfahrungen entwickelte Schmidt verschiedene Grundprinzipien:

Zielgruppenspezifische Lösungen

Schmidt unterscheidet zwischen verschiedenen Graden der Wissensarbeit:

  • Wissensarbeit (z.B. Ingenieure)
  • Wissensintensive Arbeit
  • Wissensbasierte Arbeit (einfachste Stufe)

Lösungen müssen entsprechend angepasst werden, da eine Lösung, die für Ingenieure funktioniert, für andere Zielgruppen ungeeignet sein kann.

Kommunikation anpassen

Schmidt entwickelte eine Analogie zum Autofahren:

  • Autokonstrukteure: Wissensmanagement-Experten, die tiefes technisches Verständnis haben
  • Automechaniker: Knowledge Management Facilitatoren als Vermittler
  • Autofahrer: Nutzer von Wissensmanagement, die einfach nur fahren wollen

Je nach Zielgruppe muss die Kommunikation angepasst werden. Schmidt bietet inzwischen drei verschiedene Vorträge für Hochschulen an, je nachdem, welche Rolle die Studenten einnehmen möchten.

Branchenspezifische Unterschiede

Selbst innerhalb eines Konzerns können verschiedene Bereiche völlig unterschiedliche Anforderungen haben. Bei Continental unterscheiden sich Reifenentwicklung (6 Jahre Innovationszyklen) und Cockpitentwicklung (Monate) fundamental.

Integration in bestehende Strukturen

Eine zentrale Erkenntnis ist die Notwendigkeit der Integration in etablierte Prozesse und Strukturen. Standalone-Lösungen sind zwar schneller implementiert, aber weniger nachhaltig. Integration ist aufwendiger, führt aber zu besserer Verankerung in der Organisation.

Physische Zusammenkunft als Erfolgsfaktor

Schmidt identifiziert als gemeinsames Merkmal erfolgreicher Management-Instrumente des 21. Jahrhunderts (Barcamps, Scrum, Wissensbilanz, Future Backwards, Fishbowl, Syntegration), dass sie Menschen physisch zusammenbringen und in Dialogsituationen versetzen. Diese physische Komponente lässt sich nicht vollständig digital simulieren.

Aktuelle Projekte und Verschwendungsarten bei Wissensarbeit

Schmidt arbeitet kontinuierlich an der Weiterentwicklung des Wissensmanagements. Zu seinen aktuellen Projekten gehören:

Sieben Maximen für den erfolgreichen Umgang mit Wissen

In einem Buchbeitrag hat er die Quintessenz seiner Erfahrungen in sieben Maximen zusammengefasst, die sowohl Erfolgsfaktoren als auch Grenzen von Wissensmanagement aufzeigen.

Sieben Verschwendungsarten bei Wissensarbeit

Gemeinsam mit einem ehemaligen Studenten entwickelte Schmidt ein Konzept zu Verschwendungsarten bei Wissensarbeit. Er schätzt, dass bereits eine Reduzierung der Verschwendung um 10-20% deutschlandweit Milliardenbeträge freisetzen könnte - ausreichend für die Sanierung von Schulen und andere wichtige Investitionen.

Zwölf Voraussetzungen für dauerhaften Erfolg

Aus seinen Vorlesungen an Hamburger Hochschulen seit 2003 entwickelte Schmidt zwölf Voraussetzungen für den dauerhaften Erfolg von Wissensmanagement. Diese Liste wuchs über die Jahre von ursprünglich sieben Punkten und stellt sein "geronnenes Wissen" aus knapp 30 Jahren Erfahrung dar.

Fazit

Schmidts Vortrag zeigt eindrucksvoll die Entwicklung des Wissensmanagements über drei Jahrzehnte aus der Perspektive eines Praktikers. Seine wichtigsten Erkenntnisse lassen sich wie folgt zusammenfassen:

Kritische Erfolgsfaktoren:

  • Unabhängigkeit vom Wohlwollen einzelner Personen durch institutionelle Verankerung
  • Zielgruppenspezifische Lösungen statt "One-Size-Fits-All"-Ansätze
  • Integration in bestehende Prozesse und Strukturen
  • Angepasste Kommunikation je nach Zielgruppe
  • Berücksichtigung branchenspezifischer Besonderheiten

Zentrale Herausforderungen:

  • Unternehmenskultur als entscheidender Faktor für Erfolg oder Misserfolg
  • Notwendigkeit tiefer Fachkenntnis für effektives Wissensmanagement in Spezialbereichen
  • Balance zwischen schneller Implementierung und nachhaltiger Verankerung

Handlungsempfehlungen:

  • Wissensbilanz Made in Germany professionell durchführen lassen, um Handlungsfelder zu identifizieren
  • Physische Zusammenkünfte und Dialogformate als zentrale Instrumente nutzen
  • Verschwendungsarten bei Wissensarbeit systematisch analysieren und reduzieren
  • Kontinuierliche Reflexion und Anpassung der Wissensmanagement-Strategien

Schmidt schließt mit dem Hinweis auf sein "Wanderbuch" - eine Metapher für die kontinuierliche Reflexion und das Lernen, das für erfolgreiche Wissensarbeiter essentiell ist. Sein Vortrag ist selbst ein Beispiel für den Wissenstransfer zwischen Generationen von Wissensmanagement-Praktikern.