Franz Lehner
Die Kluft zwischen Theorie und Praxis im Wissensmanagement
Franz Lehner analysiert die problematische Entwicklung des Wissensmanagements als Disziplin und zeigt auf, wie sich eine Kluft zwischen akademischer Forschung und praktischer Anwendung entwickelt hat. Er verdeutlicht, dass trotz etablierter Wissensmanagement-Abteilungen in vielen Unternehmen der messbare Nutzen oft unklar bleibt und fordert eine Standardisierung der Disziplin, um aus der aktuellen "Wissenswerkstatt" eine verlässliche "Fahrradklinik" zu werden.
- Referent:innen: Franz Lehner
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Hauptthemen des Beitrags:
- Die paradoxe Situation des Wissensmanagements heute
- Die entstehende Kluft zwischen Theorie und Praxis
- Die Problematik der ständig wechselnden Modethemen
- Das Identitätsproblem der Disziplin
- Lösungsansätze für eine evidenzbasierte Zukunft
Die paradoxe Situation des Wissensmanagements heute
Franz Lehner beginnt seine Analyse mit einem persönlichen Erlebnis, das symbolisch für das Problem des Wissensmanagements steht: Während bei einer "Fahrradklinik" klar ist, welche Leistung man erhält, bleibt bei einer "Wissenswerkstatt" völlig unklar, was das Angebot umfasst. Diese Unklarheit prägt auch die Wahrnehmung des Wissensmanagements in Unternehmen.
Die Entwicklung zeigt ein paradoxes Bild: Einerseits ist das Thema scheinbar etabliert, mit zahlreichen Publikationen, Beratungsdienstleistungen und Konferenzen. Der Gartner Hype Cycle zeigt, dass Wissensmanagement bereits 2003 nicht mehr als aufkommender Trend gelistet wurde, was normalerweise bedeutet, dass es fest in den Unternehmen etabliert ist. Andererseits offenbart sich bei genauerem Hinsehen eine andere Realität.
Die entstehende Kluft zwischen Theorie und Praxis
Ein zentraler Befund von Lehners Analyse ist die seit 2003 aufgehende Schere zwischen akademischen Veröffentlichungen und praxisorientierten Publikationen. Während sich die Praxis stabilisiert hat, ist der akademische Bereich "explodiert". Diese Entwicklung führt zu einer problematischen Diskrepanz:
- In der Praxis: Viele Unternehmen haben Wissensmanagement-Abteilungen etabliert, aber "kaum jemand ist in der Lage, seinen Nutzen richtig nachzuweisen"
- In der Wissenschaft: Kontinuierliche Expansion der Forschung, aber zunehmende Entfernung von praktischen Bedürfnissen
- Bei den Nutzern: Manager bestätigen die Wichtigkeit des Themas, aber in der praktischen Umsetzung "passt irgendetwas nicht"
Die Problematik der ständig wechselnden Modethemen
Lehner verdeutlicht das strukturelle Problem der Wirtschaftsinformatik als Mutterdisziplin des Wissensmanagements: die kontinuierlich wechselnde Zahl von Modethemen im "Halbjahresrhythmus". Diese Orientierung an Trends führt zu mehreren Problemen:
- Identitätsverlust: "Für das Wissensmanagement kann eigentlich keine Identität entstehen"
- Begriffliche Verwirrung: Neue Labels wie "Digitalisierung", "Internet der Dinge" oder "Industrie 4.0" verschleiern, dass "gar nicht so sehr der Sachverhalt neu ist, sondern eigentlich nur die Wörter"
- Fehlende Kontinuität: Die ständige Neuerfindung verhindert die Entwicklung stabiler Konzepte und Methoden
Die Analyse zeigt, dass während in der akademischen Welt Begriffe wie "Wissensentwicklung", "Wissenstransfer" und "Wissensarbeit" dominieren, die Praxis andere Prioritäten setzt: Innovation, digitale Transformation und neue Technologien stehen im Vordergrund.
Das Identitätsproblem der Disziplin
Lehner beschreibt das Wissensmanagement als eine Disziplin ohne klare Identität. Die Situation erinnert ihn an "die islamische Welt, also da fehlt ein wenig die zentrale Autorität". Im Gegensatz zu anderen Disziplinen wie der Medizin oder dem Ingenieurswesen gibt es:
- Keine einheitliche Terminologie: Jeder erfindet "das Rad neu" und definiert Grundbegriffe individuell
- Keine standardisierten Methoden: Die in Lehrbüchern beschriebenen Ansätze "verwendet in dieser Form niemand"
- Keine evidenzbasierte Praxis: Es fehlt die Verbindung zwischen identifizierten Problemen und bewährten Lösungswegen
Diese Situation führt dazu, dass in manchen Unternehmen "das Wort Wissensmanagement gar nicht mehr verwendet werden darf", nachdem teure Beratungsprojekte ohne erkennbaren Nutzen durchgeführt wurden.
Lösungsansätze für eine evidenzbasierte Zukunft
Lehner entwickelt eine Vision für die Zukunft des Wissensmanagements, die sich an erfolgreichen Disziplinen orientiert:
Evidenzbasierter Ansatz: Ähnlich der Medizin sollte es klare Verbindungen zwischen Symptomen und bewährten Behandlungsmethoden geben. "Hier das Symptom, hier die Behandlung, die sich bewährt hat, hier quasi das Problem, hier der Lösungsweg."
Standardisierung und gemeinsame Sprache:
- Entwicklung eines "Standardkatalogs" ähnlich dem medizinischen "Catalog of Diseases"
- Einheitliche Terminologie, damit alle Beteiligten "vom Gleichen reden"
- Strukturierung des Angebots durch eine "Wissenslandkarte"
Klare Abgrenzung:
- Fokussierung auf den Kernbereich des Wissensmanagements
- Bewusste Entscheidung, welche Themen dazugehören und welche nicht
- Industrie 4.0 beispielsweise "gehört zunächst mal nicht im engeren Umfeld zu dem, wo wir Antworten anbieten werden"
Konkrete Anwendungsorientierung: Lehner betont die Notwendigkeit, "konkret zu bleiben" und sich an realen Unternehmensproblemen zu orientieren, wie er es in seinen eigenen Projekten praktiziert.
Fazit
Franz Lehner zeichnet ein ernüchterndes Bild des aktuellen Zustands des Wissensmanagements. Seine zentrale These: Das Wissensmanagement befindet sich in einer Krise, die er als "Failed Discipline" charakterisiert. Die Disziplin leidet unter:
- Einer wachsenden Kluft zwischen akademischer Forschung und praktischer Anwendung
- Fehlender Standardisierung und einheitlicher Terminologie
- Orientierung an wechselnden Modethemen statt an stabilen Grundlagen
- Unklarem Nutzennachweis in der Praxis
Offene Fragen:
- Wie kann eine zentrale Autorität für Standards im Wissensmanagement etabliert werden?
- Welche Rolle sollten bestehende Organisationen wie die Gesellschaft für Wissensmanagement (GfWM) dabei spielen?
- Wie lässt sich die Balance zwischen Innovation und Stabilität in der Disziplinentwicklung finden?
Handlungsempfehlungen:
- Entwicklung einer gemeinsamen "Wissenslandkarte" zur Strukturierung der Disziplin
- Fokussierung auf evidenzbasierte Methoden mit nachweisbarem Nutzen
- Klare Abgrenzung des Wissensmanagements von anderen Disziplinen
- Verstärkte Zusammenarbeit zwischen Wissenschaft und Praxis zur Überbrückung der Kluft
- Transformation von der unklaren "Wissenswerkstatt" zur verlässlichen "Fahrradklinik" mit definierten Leistungen
Die Vision ist klar: "Wir müssen damit aus dieser Ecke Wissenswerkstatt rauskommen, wo keiner weiß, was das ist und halt dann vielleicht wirklich so eine kleine Fahrradklinik werden, wo die Unternehmen dann auch wissen, was sie wirklich von uns kriegen."