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Oliver Fischer - Selbstorganisation sichtbar machen – Praxiserfahrungen mit dem 6K-Modell der LV 1871

Oliver Fischer: Selbstorganisation sichtbar machen – Praxiserfahrungen mit dem 6K-Modell der LV 1871

Wie selbstorganisiert arbeiten unsere Teams wirklich – und wie können wir das zuverlässig messen? Bei der LV 1871 setzen wir seit drei Jahren das eigens entwickelte 6K-Modell ein, um den Reifegrad agiler Teams systematisch zu erfassen und weiterzuentwickeln. Anhand von sechs Dimensionen (Kompetenzen, Kollegialität, Kommunikation, Kontrolle, Kooperation, Koordination) erfolgt eine regelmäßige Selbst- und Fremdeinschätzung, die eine wertvolle Grundlage für Teamdialoge, Reflexion und gezielte Entwicklung bietet. Der Vortrag zeigt, wie das Modell im Alltag eingesetzt wird, welche Erkenntnisse daraus gewonnen werden und welche Impulse es für die Teamentwicklung liefert. Interessierte Teilnehmende sind eingeladen, das Modell im eigenen Kontext zu verproben – wir stellen dafür Materialien und Begleitung zur Verfügung.

Oliver Fischer von der LV 1871 präsentierte das von seinem Unternehmen entwickelte 6K-Modell zur Messung und Entwicklung von Selbstorganisation in agilen Teams. Das Modell wurde in Kooperation mit der Ludwig-Maximilians-Universität München entwickelt und umfasst sechs Dimensionen: Koordination, Kooperation, Kontrolle, Kompetenzen, Kommunikation und Kollegialität. Durch jährliche Workshops mit Selbst- und Fremdeinschätzung werden Stärken und Entwicklungsfelder sichtbar gemacht und konkrete Maßnahmen zur Verbesserung der Teamarbeit abgeleitet.

Der Beitrag gliederte sich in vier Hauptteile: 1. Einführung und Motivation - Warum braucht es ein Modell für Selbstorganisation? 2. Die sechs Dimensionen des 6K-Modells - Detaillierte Vorstellung der Bewertungskriterien 3. Praktische Anwendung - Wie wird das Modell bei der LV 1871 eingesetzt? 4. Auswertung und Erfahrungen - Erkenntnisse aus vier Jahren Praxiseinsatz

Die Ausgangssituation bei der LV 1871

Die LV 1871 ist ein mittelständischer Lebensversicherer mit 500 Mitarbeitenden, von denen über 100 in der Anwendungsentwicklung arbeiten. Diese sind in 16 agilen Teams organisiert, die ihre Versicherungsplattform entwickeln. Fischer erklärte die Herausforderung: "Wir haben halt irgendwann festgestellt, wir wissen gar nicht, wie gut und selbstorganisiert sie denn wirklich arbeiten."

Das Problem war, dass ohne strukturierte Bewertung keine gezielte Unterstützung und Entwicklung der Teams möglich war. Fischer beschrieb es als "eher so ein Raten-Blindflug", bei dem Entwicklungsmaßnahmen hauptsächlich auf persönlichen Kontakten der Führungskräfte und Coaches basierten.

Die Entwicklung des 6K-Modells

2021, mitten in der Corona-Zeit, startete die Zusammenarbeit mit der Ludwig-Maximilians-Universität München. Ein Team von vier Studierenden entwickelte gemeinsam mit der LV 1871 das Modell. Fischer betonte: "Der wissenschaftliche Teil, der kam tatsächlich dann aus dem Unikontext und der praktische Teil, die Anwendung etc. Was brauchen wir? Das kam natürlich von uns."

Die Motivation war klar definiert: Selbstorganisierte Teams sind zentral für agiles Arbeiten, ein Reifegradmodell hilft dabei, Stärken und Entwicklungsfelder sichtbar zu machen, und es bietet einen strukturierten Rahmen für Reflexion und Entwicklung.

Die sechs Dimensionen des 6K-Modells

Koordination - Zusammenarbeit nach außen

Die erste Dimension betrachtet, wie Teams mit anderen koordinieren. Fischer erläuterte: "Also wir schauen drauf, wie koordiniert arbeiten die Teams mit anderen." Dies umfasst: - Zusammenarbeit mit anderen Teams - Abstimmung von Zuständigkeiten zwischen Teams - Koordination mit mehreren Führungskräften - Management von Schnittstellen und Stakeholdern

Bei der LV 1871 haben Teams typischerweise mehrere Führungskräfte aus verschiedenen Einheiten, was die Koordinationsanforderungen erhöht.

Kooperation - Zusammenarbeit nach innen

Die zweite Dimension fokussiert auf die interne Teamdynamik: - Verteilung von Aufgaben im Team - Annahme und Angebot von Hilfestellung - Gegenseitige Unterstützung im Team - Teamübergreifende Kooperation

Fischer räumte ein, dass es Überschneidungen zwischen den Dimensionen gibt: "Das ist nicht trennscharf. [...] Aber das ist gar nicht die Intention von dem Modell, sondern die Intention vom Modell ist, alle Bereiche von selbstorganisierter Arbeit zu beleuchten."

Kontrolle - Prozessbeherrschung

Die dritte Dimension bewertet die Selbstkontrolle des Teams: - Beherrschung und Anpassung eigener Prozesse - Einhaltung von Terminen und Zusagen - Reflexion über die Arbeitsweise (Retrospektiven) - Qualitätsverständnis und -standards

Besonders im Versicherungsumfeld ist Qualität entscheidend, da die Software "qualitativ gut sein" muss.

Kompetenzen - Fähigkeiten und Teamgröße

Die vierte Dimension analysiert die verfügbaren Kompetenzen: - Vorhandensein aller benötigten Fähigkeiten - Cross-funktionale Zusammensetzung - Angemessene Teamgröße - Kompetenzentwicklung

Bei der LV 1871 sind Teams cross-funktional besetzt mit Softwareentwicklern, Business-Analysten, UX-Experten und Testing-Spezialisten, je nach Produktanforderungen.

Kommunikation - Transparenz und Effizienz

Die fünfte Dimension betrachtet die Kommunikationsqualität: - Transparenz gegenüber Stakeholdern - Proaktive Kommunikation bei Verzögerungen - Regelmäßigkeit der Kommunikation - Effizienz und Zielsetzung der Kommunikation

Kollegialität - Vertrauen und Teamzusammenhalt

Die sechste Dimension bewertet die zwischenmenschliche Ebene: - Vertrauen untereinander - Teamzusammenhalt - Wissensaustausch - Persönliche Verbindungen

Fischer betonte: "Man spricht ja oft von Sicherheit im Team. Und genau das prüfen wir an der Stelle ab."

Praktische Anwendung des 6K-Modells

Workshop-Format und Durchführung

Das 6K-Modell wird in jährlichen, vierstündigen Workshops angewendet. Fischer erklärte den Ablauf: "Das heißt, wir haben einmal im Jahr, kriegt jedes Team die Aufgabe, so eine Selbsteinschätzung zu machen, anhand dieser sechs Dimensionen."

Der Workshop gliedert sich in mehrere Phasen: - Gemeinsames Ankommen - Parallele Selbst- und Fremdeinschätzung in getrennten Räumen - Zusammenführung und Abgleich der Bewertungen - Ableitung konkreter Maßnahmen

Bewertungssystem

Die Bewertung erfolgt auf einer sechsstufigen Skala mit Symbolen von einem weinenden Gesicht (1) bis zu einer Rakete (6). Für jede Dimension gibt es definierte Extremwerte mit konkreten Beschreibungen.

Fischer beschrieb den Bewertungsprozess: "Jeder schätzt sich jetzt da selber ein, sagt, ich nehme das in unserem Team so und so wahr. Dann hat jedes Teammitglied ein Kartenset mit sechs Nummern."

Selbst- und Fremdeinschätzung

Parallel zur Teameinschätzung führen Stakeholder eine Fremdeinschätzung durch. Diese Stakeholder umfassen: - Verschiedene Führungskräfte der Teammitglieder - Mitglieder des Führungs- und Unterstützungsteams - Andere Personen mit engem Teambezug

Fischer betonte: "Es geht eigentlich mehr um den Dialog als um den Durchschnittswert." Der Austausch und die Diskussion der unterschiedlichen Perspektiven stehen im Vordergrund.

Moderation als Erfolgsfaktor

Ein entscheidender Erfolgsfaktor ist die professionelle Moderation: "Das ist ein großer Erfolgsfaktor, dass man sowas moderiert macht und nicht den Teams das selber überlässt." Bei der LV 1871 moderieren agile Coaches die Workshops und sorgen für strukturierte Ergebnisse.

Auswertung und Maßnahmenableitung

Abgleich von Selbst- und Fremdbild

Nach den parallelen Bewertungen werden die Ergebnisse zusammengeführt. Fischer erklärte: "Logischerweise ist es nicht deckungsgleich. Logischerweise sind da auch die Argumente, warum man das so oder so einschätzt, unterschiedlich."

Dieser Abgleich deckt blinde Flecken auf und führt zu wertvollen Erkenntnissen über unterschiedliche Wahrnehmungen.

Konkrete Maßnahmen

Jeder Workshop endet mit der Ableitung konkreter Maßnahmen. Fischer gab Beispiele: - Personelle Verstärkung bei Unterbesetzung - Kompetenzentwicklung bei Skill-Lücken - Einführung regelmäßiger Lernzeiten - Verbesserung der Kommunikationsstrukturen

Die Maßnahmen sind "sehr teamindividuell" und werden von den entsprechenden Verantwortlichen übernommen.

Jährlicher Rhythmus

Der einjährige Rhythmus hat sich bewährt, da die abgeleiteten Maßnahmen Zeit zur Umsetzung benötigen. Fischer begründete: "Da kommen in der Regel jetzt nicht Dinge raus, die so super kurzfristig lösbar sind."

Erfahrungen und Erkenntnisse

Vertraulichkeit der Ergebnisse

Ein wichtiger Aspekt ist der Umgang mit den Bewertungsergebnissen. Fischer erklärte die Entscheidung gegen eine unternehmensweite Veröffentlichung: "Wir veröffentlichen das nicht im Unternehmen, weil die Gefahr natürlich besteht, dass dann so ein Haha, wir sind besser als ihr entstehen könnte."

Die Ergebnisse bleiben im Kreis der Teams und ihrer direkten Stakeholder, um Vergleichsdruck und negative Dynamiken zu vermeiden.

Verpflichtender Charakter

Anders als in vielen anderen Organisationen ist die Teilnahme bei der LV 1871 verpflichtend. Fischer begründete: "Das mag jetzt unagil klingen, finde ich aber nicht, weil das ist Teil von Führung, zu sagen, wir glauben, dass wir das brauchen."

Diese Entscheidung stellt sicher, dass auch Teams teilnehmen, die möglicherweise den größten Entwicklungsbedarf haben.

Unterschiedliche Wahrnehmungen

Interessant ist, dass gelegentlich die Fremdeinschätzung positiver ausfällt als die Selbsteinschätzung. Fischer berichtete: "Es ist selten, aber ich hatte das tatsächlich schon sogar in einem Workshop, den ich moderiert habe, dass das Team sich deutlich schlechter eingeschätzt hatte als die Stakeholder."

Experimentelle Weiterentwicklung

Das Modell wird kontinuierlich weiterentwickelt. Aktuell experimentiert die LV 1871 mit einem Kurzformat, bei dem Teams und Stakeholder gemeinsam in einem Raum bewerten, anstatt parallel zu arbeiten.

Handlungsempfehlungen und Aufrufe

Angebot zur Weitergabe

Fischer machte ein konkretes Angebot an interessierte Organisationen: "Wir würden das gerne anderen Organisationen zur Verfügung stellen." Das Angebot umfasst: - Moderationssets und Leitfäden - Poster mit Spinnennetzdiagrammen - Kartensets für die Bewertung - Train-the-Trainer-Unterstützung - Anschubhilfe für die ersten Workshops

Kontaktmöglichkeiten

Interessierte können sich direkt an Oliver Fischer oder André wenden, um das 6K-Modell in ihrer Organisation einzusetzen.

Übertragbarkeit auf andere Bereiche

Obwohl das Modell bisher nur in Software-Teams eingesetzt wird, sieht Fischer Potenzial für andere selbstorganisierte Teams: "Wir überlegen aber und sind eigentlich der Meinung, das lässt sich auch für andere Teams anwenden, die selbst organisiert arbeiten."

Anpassungsmöglichkeiten

Das Modell ist flexibel gestaltbar. Die Stakeholder-Zusammensetzung kann je nach Kontext angepasst werden, und auch die Häufigkeit der Workshops kann variiert werden.

Fazit

Das 6K-Modell der LV 1871 bietet einen strukturierten Ansatz zur Bewertung und Entwicklung von Selbstorganisation in Teams. Durch die Kombination von Selbst- und Fremdeinschätzung, professioneller Moderation und konkreter Maßnahmenableitung entsteht ein wertvolles Instrument für die Teamentwicklung.

Der Erfolg des Modells liegt nicht in den Zahlenwerten, sondern im Dialog und der gemeinsamen Reflexion. Fischer fasste es treffend zusammen: "Es ist eigentlich der große Mehrwert an diesem Format, dass sich die Teams und die Stakeholder untereinander erstmal austauschen."

Die vierjährige Praxiserfahrung zeigt, dass das Modell Teams dabei hilft, ihre Selbstorganisation systematisch zu verbessern und Führungskräften ermöglicht, gezielt zu unterstützen. Die Bereitschaft zur Weitergabe des Modells unterstreicht den Wert, den die LV 1871 in diesem Ansatz sieht.